Veröffentlicht in Kurzgeschichten

Der Faden

Drei Frauen standen vor einem Webstuhl und betrachteten ihr Werk.

„Was soll ich jetzt mit dem Faden machen?“, fragte die eine. Sie hielt das Webschiffchen in der einen Hand, die andere stützte sie in die Hüfte. Mit gerunzelter Stirn blickte sie auf das bereits fertige Gewebe. Ihr Leib war geschwollen von dem werdenden Kind. „Seht ihr wie schön er hier im Bild zur Geltung kommt?“ Sie deutete mit dem Schiffchen auf besagte Stelle. „Aber jetzt scheint er das Bild ruinieren zu wollen.“

„Vielleicht könnten wir versuchen…“, hob die Jüngste von ihnen an; eine junge blonde Frau, fast noch ein Mädchen.

„Schneid ihn weg!“, fiel die dritte Frau der Jüngsten unwirsch ins Wort.

„Aber sieh doch! Wenn wir ihn mit den grünen und dann mit einem goldenen verweben, würde sich ein aufregendes neues Muster ergeben!“ Die Hände der jungen Frau flatterten wie Schmetterlinge durch die Luft, während sie versuchte ihre Idee zu erklären.

„Nein!“, blaffte die Alte und hätte ihren beiden Kolleginnen beinahe den Gehstock über die Köpfe gezogen.

Die Jüngste zog ein finsteres Gesicht, hob jedoch die Schere und durchtrennte mit einem Seufzen den Faden.

Die Schwangere zog bereits einen neuen Faden auf das Schiffchen, während die anderen beiden kritisch das Gewebe begutachteten.

„Du hattest Recht“, sagte die Blonde schließlich. Derweil webte die andere die nächsten Reihen. „Der Faden hätte dort nicht hineingepasst.“

Die Alte schnaubte unfein. Dann erlaubte sie sich ein kleines Lächeln, dass die Faltenlandschaft ihres Gesichts in eine ungewohnt fröhliche Miene verwandelte. „Ist schließlich nicht deine Schuld, Mädchen. Es ist immerhin an den Erfahrenen aus der Vergangenheit zu lernen.“

„Und die Aufgabe der Mütter ist es, die Welt von heute zu formen.“ Mit elegantem Schwung und zufriedener Miene setzte sie das Webschiffchen ab.

„Was hast du nur getan, du dumme Gans!“, keifte die Alte. Ihr war entgangen, wie die Schwangere die Fäden neu kombiniert hatte.

„Unsinn, es ist wunderschön!“

„Du hast das ganze Bild ruiniert!“ Mit ihrem schweren Stock schlug die Alte nach den Beinen der Jüngeren. Mit einem kleinen Schmerzensschrei sprang diese aus der Reichweite des zornig geschwungenen Holzes.

„Ich finde es gelungen“, äußerte sich die Blonde vorsichtig.

„Weil du keine Ahnung hast, du dummes Ding!“

„Urd, das reicht jetzt aber!“, sagte die Schwangere mit scharfer Stimme.

Und so hört man sie weithin streiten, die Alte, die Mutter und das Mädchen, während sie den Teppich des Lebens weben. Manchmal hört man Skurd, die Jüngste, im Wind seufzen, wenn ihr unschuldiges Herz ein weiteres Leben beenden muss. Es kann auch passieren, dass man Urds Stockhiebe spürt, als dumpfe Donnerschläge in weiter Ferne. Oder Verdandis mütterliche Fürsorge im Schoß der Erde.