Sie suchte ihn abermals im ‚Einsamen Wanderer‚ auf. Nicht die kalte Dunkelhaarige, sondern das hübsche Blondchen. Wieder verbarg ein langer schwarzer Umhang das feine Gewebe ihres weiß-goldenen Kleides, doch die Kapuze hatte sie dieses Mal zurückgeschlagen.
„Ich muss mit dir reden“, sagte Nordstern unumwunden, als sie vor seinem Stammtisch angelangt war.
„Wo ist deine dunkelhaarige Freundin?“, wollte Abraxas wissen.
„Darum geht es. Es ist Vollmond. Gibt es hier einen Ort, wo wir uns ungestört unterhalten können?“
Abraxas musterte sie über den Rand seines Weinkrugs. Sie wirkte angespannt und sah ihn flehend aus großen blauen Augen an.
„Na gut, komm mit.“ Er schob seinen Stuhl zurück, griff seinen Krug und ging voraus zu der schiefen Holztreppe, die ins Obergeschoss führte. Nordstern folgte ihm auf den Fuß. Er führte sie in das Zimmer, das er im ‚Einsamen Wanderer‚ bewohnte. Es war das größte des Wirtshauses und er lebte hier seit mindestens einem Jahrzehnt.
Beim Eintreten in sein Allerheiligstes rümpfe Nordstern die Nase. „Ich glaube, ich bin noch keinem Gefallenen mit so niedrigem Lebensstandart begegnet“, meinte sie. Dennoch streifte sie ihren Umhang ab und ließ sich aus Ermangelung einer Sitzgelegenheit auf seinem Bett nieder.
„Rebellen leben nun mal nicht unbedingt bequem“, gab er zurück und lehnte sich an einen Tisch, der vor dem Fenster auf die Straße stand. Der Stuhl davor war von einem Stapel Bücher belegt. Genauso wie der größte Teil des Tisches. Und sein Nachttisch. Und diese eine Ecke des Raumes, die er sowieso nie geputzt hatte. „Also, was gibt es Wichtiges?“
„Nun“, begann Nordstern. „Der Rabenhort existiert noch.“
„Da hast du eine gute Beobachtungsgabe“, lobte Abraxas und genehmigte sich einen Schluck des Weines. Mit der anderen Hand fuhr er unter eine offene Schriftrolle hinter seinem Rücken und ertastete das kühle Metall, nachdem er gesucht hatte. Unauffällig schob er es hinten in den Bund seiner Hose.
„Das hat dem Vater nicht gefallen“, sagte Nordstern. Sie schien nichts bemerkt zu haben.
„Und was will er dagegen unternehmen?“ Er knallte den Krug auf dem Tisch und ging einige Schritte auf Nordstern zu. „Mir eine weitere Verwarnung zukommen lassen?“
„Er schickt Mond, um deine Stadt zu vernichten“, erwiderte Nordstern mit vorgerecktem Kinn. „Sie ist auf dem Weg hierher.“
Abraxas kam dicht vor ihr zum Stehen, sodass sie den Kopf in den Nacken legen musste, um ihn anzusehen. „Und weshalb bist du dann hier?“, wollte er wissen.
„Ich wollte dich warnen.“ Sie streckte eine Hand aus und berührte mit den Fingerspitzen sein Gesicht. „Sie wird kein Erbarmen zeigen.“
„Das ist mir gleich“, flüsterte Abraxas. „Denn ich habe ja dich.“ Er kam ihr noch näher, drückte sie an der Schulter sanft auf das Bett und stieg über sie. „So lange ich dich habe, kann mir deine Freundin gestohlen bleiben.“ Er beugte sich hinab und küsste ihre vollen Lippen. Sie stöhnte auf und wölbte ihm ihren wohlgeformten Körper entgegen. Innerlich schmunzelte Abraxas. Er hatte vollkommen richtig gelegen.
Während er Nordstern mit einer Hand aufs Bett presste und sie mit Küssen bedeckte, griff er mit der anderen nach den Handschellen, die er in seinen Hosenbund geschoben hatte. Mit einem Blick zum Fenster vergewisserte er sich, dass die Sonne noch nicht untergegangen war. Glühend schwebte sie noch über dem Horizont. Viel Zeit blieb ihm also nicht mehr, bis das Himmelsgestirn unter ihm zu voller Stärke erwachte.
Also jetzt oder nie.
Er zog die Handschellen hervor und es gelang ihm, sie um die schlanken Handgelenke Nordsterns zu schlingen, bevor dieser bewusst wurde, was er da tat.
Noch immer kniete er über ihr, doch nun lagen ihre Hände in Sterneneisen. Das einzige Metall, das ein Himmelsgestirn binden konnte. Er hatte den einen Monat gut genutzt und sich vorbereitet.
„Was soll das?“, fauchte Nordstern und versuchte, sich aus den Fesseln zu befreien.
„Ich danke dir für deine Fürsorge“, sagte Abraxas und erhob sich vom Bett. „Aber ich wusste, dass ihr beiden wiederkommen würdet und ich bin vorbereitet.“
„Ich bin nicht deine Feindin“, presste Nordstern hervor. „Ich bin gekommen um dich zu warnen!“
„Das weiß ich zu schätzen“, sagte Abraxas. „Und jetzt sei eine brave Geisel und halt den Mund.“ Er schob die Schriftrolle beiseite. Darunter lag ein weiteres Paar Handschellen aus demselben Material. Ein Schmied hatte sie nach Abraxas Angaben aus dem Sterneneisen gefertigt, für das er beinahe seine Seele verkauft hatte.
„Sterneisen“, sagte Nordstern und diesmal klang sie niedergeschlagen.“
„Exakt.“
„Mich gefangen zu halten wird Mond nicht aufhalten.“
„Ich habe immer noch einen Plan B“, sagte er und griff mit diesen Worten die Handschellen und die Kette aus Sterneneisen, die noch auf dem Tisch lagen.
„Es ist noch nicht zu spät, die Forderungen des Vaters zu erfüllen!“
Abraxas stieß den Tisch zur Seite, öffnete das Fenster und kletterte auf den Fenstersims. „Der Vater ist mir recht egal“, sagte er.
Raschelnd entfaltete er seine nachtschwarzen Schwingen und stieg mit kräftigen Flügelschlägen zum Himmel auf. Mond würde Rabenhort sehen müssen, um es zu zerstören. Also musste sie hier irgendwo sein.
Und da erspähte er sie. Eine dünne Silouette vor der gleißend hellen Scheibe des Mondes. Ohne Flügel oder andere sichtbare Hilfsmittel schwebte sie reglos in der Luft. Die Arme hatte sie über den Kopf erhoben.
Abraxas beschleunigte seinen Flügelschlag und kam Mond immer näher. Nun konnte er das dunkle Haar erkennen, das der Wind ihr ins Gesicht trieb. Ihr schmaler Mund bewegte sich in einer Beschwörungsformel.
Und da sah Abraxas den Meteroiten. Er begann als Sternschnuppe am Himmel. Doch anstatt nach wenigen Sekunden zu verglühen, wurde er größer und größer. Rote und blaue Flammen zogen in seinem Schweif Spuren in den Himmel. Und dann stand er direkt über ihnen. Ein brennender Gigant aus Himmelsgestein.
Abraxas kollidierte mit Mond, doch es war zu spät.
Mit einem Getöse als würde die Welt zerbrechen, schlug der Meteorit in Rabenhort ein. Die Welt erzitterte unter dem Einschlag und die Druckwelle zog Abraxas wieder von Mond fort.
Der Donner des Einschlags hallte noch in der Ferne nach und dann war es still.
Totenstill. Bis auf das spöttische Lachen aus Monds Kehle. Inzwischen schwebte sie einige Manneslängen von ihm entfernt. Unberührt von der Schwerkraft, während er sich mit kräftigen Flügelschlägen in der Luft halten musste.
Unter ihnen breitete sich aus, was einmal Rabenhort gewesen war. Nun gab es lediglich einen Krater, gefüllt mit Trümmern der Stadt, die er sich zur Heimat gemacht hatte. Und in der Mitte lag der schwelende Meteorit. Groß wie die Kirche in Barnaie und genauso abstoßend.
„Nordstern war in Rabenhort“, brachte er schließlich heraus.
„Und was interessiert mich das?“, fragte Mond. Ihre rauchige Stimme hatte einen überirdischen Klang.
„Ich muss töricht gewesen sein, dir menschliches Empfinden einzuräumen.“
„Das ist nicht deine Einzige Torheit, Dunkelschwinge“, sagte Mond. Mit wehendem Kleid stieg sie höher und höher, sodass Abraxas Mühe hatte, mitzuhalten. „Gib acht, mit wem du dich nun anlegst, Gefallener, denn der Vater hat dir deine Unsterblichkeit genommen.“ Dann beschleunigte sie und schoss hinauf in den finsteren Nachthimmel und ließ Abraxas über den Trümmern seiner Heimat zurück.